Crossmediabook: was ist das?

Wer Suchmaschinen nach dem Begriff „Crossmediabook“ durchscrollt, findet Seite um Seite im Zusammenhang mit „crossmedia“ vieles. Vor allem um den Crossmedia Journalismus bemühen sich Produktionsfirmen und Ausbildungsteams. Nur ein Begriff fällt gar nicht: Crossmedia Book. Warum ist das so? Eigentlich ist das unverständlich.

Warum reagieren die großen digitalen Publikationsverlage nicht auf eine digitale Innovation, die im Grunde genommen im journalistischen Bereich längst angekommen ist und von der man sagen kann, dass sie zunehmend die digitalen Medien bestimmt? Nämlich: dass die Texte als Texte wiedergegeben werden, dass sie eingesprochen sich als Audiostories präsentieren, dass ihnen Bilder zugeordnet und ergänzende Videos eingeblendet oder verlinkt werden.

Hallo,

Hier ist der erste Podcast von Crossmediabook Berlin. Ich bin Adelheid Seltmann.

Ich mache die Texte unserer Bücher und arbeite zusammen mit Joerg Franzmann, der die Videos und Bilder hin zu fügt sowie einem Team von Übersetzern, Musikern und Sprechern. Die Bücher „Deutsches Epitaph“ und „German Epitaph“ waren zwar 2005 im Prinzip schon fertig, aber erst 2021konnten von uns 10 Crossmedia Books bei Apple und Amazon zum Download bereitgestellt werden. Erst die neusten Updates bei Apple und Amazon machten das möglich. Bis dahin war es für unser Team ein weiter Weg. Und auch wenn 18 Jahre Arbeit diesen Veröffentlichungen vorausgingen, muss leider immer noch das Format des Crossmedia Books als innovativ bezeichnet werden. Immer noch sind unsere Crossmedia Books Pilotprojekte und weitgehend unbekannt. Wir müssen für ein Format werben, das es bisher noch nicht gegeben hat.

Crossmedia book: was ist das?

Wer Suchmaschinen nach dem Begriff „Crossmediabook“ durchscrollt, findet Seite um Seite im Zusammenhang mit „crossmedia“ vieles. Vor allem um den Crossmedia Journalismus bemühen sich Produktionsfirmen und Ausbildungsteams. Nur ein Begriff fällt gar nicht: Crossmedia Book. Warum ist das so? Eigentlich ist das unverständlich.

Warum reagieren die großen digitalen Publikationsverlage nicht auf eine digitale Innovation, die im Grunde genommen im journalistischen Bereich längst angekommen ist und von der man sagen kann, dass sie zunehmend die digitalen Medien bestimmt? Nämlich: dass die Texte als Texte wiedergegeben werden, dass sie eingesprochen sich als Audiostories präsentieren, dass ihnen Bilder zugeordnet und ergänzende Videos eingeblendet oder verlinkt werden.

Das ganze Medieninstrumentarium wahlweise und je nachdem, wie es möglich ist und nötig erscheint, zu verwenden, um Inhalte möglichst plastisch, akustisch und optisch eindrucksvoll darzustellen, ist eigentlich inzwischen normal und wird, wie man mitverfolgen kann, von Woche zu Woche verbessert und erweitert, auch auf den online Seiten der öffentlichen Fernsehanstalten.

Nur das Buch, insbesondere das literarische Buch, erhält eine solche multiple Medienpräsenz bisher im Allgemeinen nicht. Es bleibt als sog. eBook Klon gekoppelt an seine gedruckte Vorlage. Dabei werden die Texte in PDF eingescannt und die Bücher dann wahlweise im Papierdruck oder als eBook verkauft.

Klar kommt dem Leser entgegen, dass das eBook dann sofort heruntergeladen werden kann, und es ist auch etwas kostengünstiger. Selten aber erhält das eBook ein eigenes, den Möglichkeiten des Digitalen entsprechendes Design.

Das ist bei den Texten der journalistischen Medien anders. Sie werden digital durchgestaltet und designed, wie zum Beispiel bei der Washington Post und dem Spiegel.

Dabei läge ein neues Design eigentlich bei dieser Produktionsweise nahe. Ein Vorteil ist ja vor allem, man muss nicht Platz sparen, und man kann die Texte ausbreiten. Übersichtlichkeit ist kein Problem. Vor allem kommt ein digitales Design auf dem Bildschirm der Lesbarkeit entgegen. Buchstaben lassen sich verändern, der Farbhintergrund auch.

Neben dem eBook macht inzwischen immer mehr das Hörbuch Karriere. Es lässt sich bequem beim Autofahren oder im Zug konsumieren. Man muss seine Augen nicht auf einen Text fixieren und kann andere Tätigkeiten daneben verrichten. Dafür verzichtet man allerdings darauf den Text nachlesen zu können.

Ein komplexes Crossmedia Book aber, das wahlweise gelesen, gehört und als Film angeschaut werden kann, bietet da mehr. Diese Vorteile haben inzwischen einige Kochbücher und unter anderem die Reiseführer für sich entdeckt. Sie werden bereits häufiger in der eBook Ausgabe elektronisch entsprechend erweitert. Auch bei Schulbuchausgaben fügt man zunehmend Bilder und Filme ein.

Das liegt ja auf der Hand. Ein elektronisches Buch hat unheimliche Vorteile gegenüber der alten Lesefibel oder dem Mathe- und Physikbuch. Es kann sehr leicht mit Updates aktualisiert und den Erfordernissen des Unterrichts angepasst werden.

So sollte es sein, und immer mehr ist es auch schon so: die Schüler gehen mit ihrem iPad zur Schule, nicht wie ehedem mit schweren dicken Büchern. Ganz sicher wird so für die meisten Schüler und Lehrer die Zukunft des Unterrichts aussehen.

Das war wohl damals 2012 auch die Vision von Steve Jobs, als er sein iPad vorstellte. So hatte er es geplant und daraufhin das Design dieses Gerätes ausgerichtet.

Nur verlangt das dann ein Umdenken in der herkömmlichen Pädagogik, einen Umbruch, der allerdings von den meisten Pädagogen erst einmal begriffen und geleistet werden müsste.

Das literarische Buch aber ist als gedrucktes, bestenfalls noch eingescanntes Buch in einen solchen digitalen Prozess der Erneuerung nicht einbezogen.

Eine Crossmedia Medienpräsenz, wie sie den journalistischen Texten, den Kochbüchern und Schulbüchern zuteilwird, gibt es für das literarische Buch in der Regel nicht, hier scheint Digitalität noch weit entfernt zu sein.

Woran liegt das?

Ich denke, es gibt verschiedene und vielfältige Gründe.

Zum einen ist der Literaturbetrieb, sind vor allem die Verlage nach wie vor auf das gedruckte Buch fixiert. Ihr Leser, ihre Leserin ist im Durchschnitt 50 Jahre alt und mehr. Die Älteren aber sind gedruckte Bücher gewohnt und halten vorzugsweise an Gewohnheiten fest.

Zudem ist der literarische Roman und ist die ältere Lyrik mit ihren traditionellen Formen in eine analog strukturierte Kultur eingebunden. Diese Texte stehen in einem anderen historischen Kontext. Digitale Veröffentlichungen und Präsentationsformen sind da nicht adäquat. Diese Literatur braucht keine Digitalität, kein crossmedia Book. Dies auch dann nicht, wenn viele der gestreamten Filme auf Drehbücher zurückgreifen, die gedruckten Romanen entnommenen wurden. Bei ihnen fungiert der traditionelle Roman als Bindeglied zwischen gelesenem Text und geschauter Filmhandlung.

Dazu kommt zweitens, dass der Umgang mit digitalen Medien für alle, die damit nicht aufgewachsen sind, wie die sogenannten „digital kids“, durchschnittlich eine Herausforderung ist. Für viele der über Fünfzigjährigen war das Internet einmal „Neuland“ und wird Neuland bleiben, Neuland, das mühsam bewältigt oder aber doch im Grunde genommen sehr gerne auch abgelehnt wird.

Besonders beunruhigend ist für sie ist wohl auch, dass das Update für Digitalität substantiell ist, d.h. dass alles, was digital zur Anwendung gebracht wird, jedes Programm, jede Software genauso wie jede Hardware, nie sehr lange so besteht, wie es kürzlich noch war. Vielmehr ist es ständig sich verändernd auf Erneuerung und Verbesserung aus. Gerade das aber entspricht nicht dem Ruhebedürfnis einer Rentnergesellschaft, die sich genießend zurücklehnen möchte und die das Bewährte dem Neuen vorzieht. Bei der Alterspyramide der kapitalistischen Industriegesellschaften entsteht dadurch eine Spaltung der Gesellschaft.

Für die Jungen ist Digitalität normal. Sie stellen sich dem Prozess einer ständigen Disruption. Sie handhaben Erneuerungen mit leichter Hand und verstehen es damit umzugehen. Ihre Stimmen aber sind, besonders wenn es um politische Wahlen geht, quantitativ denen der Alten unterlegen, sprich: die Alten bestimmen in einer Demokratie die kulturellen Gewichtungen. Sie bestimmen, was als sog. „Kultur“ gewertet und staatlich gefördert wird.

Die Jungen kommen mit ihren digitalen Erfahrungen und ihrer neuen Denkweise gegen das Bedürfnis der Alten auf dem Gewohnten zu beharren nicht leicht an. Dies gilt zurzeit auch dann, wenn eigentlich die ältere Generation schon noch begreift, dass es nicht nur für die Wirtschaft schädlich ist, sich dem Umbruch der digitalen Revolution zu verweigern. Digitalität aber in seinen eigenen Alltag hineinzunehmen ist noch etwas anderes als, wenn auch mit schlechtem Gewissen, darüber öffentlich und im politischen Kontext zu reden und darüber zu verhandeln, was eigentlich sein sollte und gebraucht wird.

Der dritte Grund, weshalb das digitale literarische Buch bis heute kaum existent ist, ist die Art, wie es produziert werden muss, denn jetzt sind die  alten Produktions- und Verlagswege nicht mehr möglich. Eine Druckerei brauchen digitale Texte nicht. Das ist eigentlich schon beim eBook so. Nur dass bis jetzt die Verlage die eBook Herstellung zu organisieren imstande sind. Auch mit dem eBook Klon lässt sich Geld verdienen.

Dabei kann das Layout von Büchern über Programme im häuslichen, sogar kleinen Studio gemacht werden, dafür braucht es nicht die Organisation durch einen Verlag. Die Korrekturen übernehmen Programme perfekter als ein meist ein Korrektor, und zunehmend leistet die KI das Übersetzen mit einer hoch qualifizierten Software, die ständig weiter ergänzt und verbessert wird. Ohne Probleme kann man Texte inzwischen sekundenschnell in beliebig viele Sprachen übersetzen. Dazu kommt, dass die ehemaligen Funktionen der Verlage nun die Plattformen übernehmen. Ihre Webseiten bieten eine Beschreibung der Bücher sowie eine Biographie der Autoren. Den Vertrieb inklusive Werbung machen die großen ITFirmen wie Apple und Amazon mit zielgenauer Werbung. Auch hier kann auf einen Verlag verzichtet werden. Zudem wird präzise und täglich abgerechnet, übersichtlich für den Autor und zu klar definierten Bedingungen. Apple zahlt bisher 70% eines Downloads, das ist das Vielfache des in der Buchbranche üblichen Autorenhonorars. Außerdem werden freie Downloads zu Werbezwecken angeboten. Ebenso verfährt Amazon. Damit verschwinden ganze Berufszweige, wie der des Übersetzers und der des Lektors.

Für den Autor ist das insofern von Vorteil, als er nicht mehr in einer quälenden Warteschleife versuchen muss, bei einem Lektor vorstellig zu werden. Er oder sie muss sich ihm nicht andienen, muss nicht sein Urteil, die Ablehnung oder Zusage abwarten. Das „Urteil“ des auf einer Plattform veröffentlichten Buches fällt der Markt, der Verkauf.

Der große Vorteil für den Autor, diese neue Freiheit für ihn, ist nicht zu unterschätzen.

„MeToo“ Debatten sind von vornherein auszuschließen. Es kommt auf den Text an, nicht das Aussehen und Geschlecht der Autoren oder Autorinnen. Allerdings muss der Autor finanziell in der Lage sein sich die Hardware zu beschaffen, also einen Computer, der den Anforderungen der Programme genügt, und ja, da gibt es fortwährend neue Programme, und ja: kleine Laptops schaffen das ganz nicht. Dazu muss er die Software der Programme handhaben können, d.h. für ein Crossmedia Book: Audioproduktionsprogramme wie Logic zum Beispiel und Film- und Bildprogramme wie Final Cut. Das ist eine Herausforderung, die mit jedem Update eine neue ist.

Dafür aber braucht es braucht mehr als einen Arbeitstisch. Stifte und Papier, auch die alte Schreibmaschine ist auszurangieren. Ein Studio ist notwendig: eine Investition, für die man Geldgeber finden muss, die dem neuen Produkt zutrauen Gewinn abzuwerfen.

Aber wer investiert in eine solche Innovation? Zahlt sie sich aus? Gerade in Deutschland ist das nicht so leicht Investoren zu interessieren. Und sowieso: bei den alten Verlagen wird man dafür keine Freunde finden. Sie wissen oder ahnen, dass da etwas fundamental Neues entsteht, eine Konkurrenz des Zukünftigen, und dass sie bald das Nachsehen haben werden mit dem, was sie zu bieten gewohnt sind. Sie neigen deshalb eher dazu, eine solche elektronische Produktionsweise abzulehnen oder sogar zu verhindern.

Doch noch können sich die Traditionsverlage wie zum Beispiel Suhrkamp und Fischer auf ihre Stammleser und Käufer verlassen, immer noch, auch wenn man fragen darf, wie lange noch?

Ihre Kunden lesen in der Regel ungern auf den Bildschirmen der Computer, sondern eher gemütlich unter der Lampe auf dem Sessel Bücher, die gedruckt sind, in denen man blättern kann mit der bekannten konkreten Haptik des Papiers.

Das allerdings wird sich ändern, der Zeitticker läuft.  Dies auch weil zunehmend das Papier für gedruckte Bücher nicht mehr oder nur begrenzt vorhanden ist. Das recycelte Papier aber wird eher für Verpackungen der Onlinelieferanten verbraucht, die Druckkosten für die Verlage steigen.

Ein ernst zu nehmendes Problem allerdings ist, dass die Art der Werbung, wie sie die Plattformen Apple und Amazon zum Beispiel leisten, ausschließlich darauf zielt, möglichst viele Käufer zu finden, und das heißt immer auch: sie ist anti-elitär.

Es geht um die Masse der Leser, die kauft und dann mit ihrem Kauf abstimmt und vielleicht noch Punkte für die Bewertung abgibt.

Aber reicht es denn, wenn zum Beispiel Amazon Kindl am Ende eines elektronischen Buches nach der Bewertung des Lesers fragt? Einen Stern oder fünf Sterne geben für was? Dafür, dass meine Meinung bestätigt oder widergespiegelt wurde? Dafür, dass ich mich auf spannende Weise gut oder überhaupt nicht unterhalten habe?

Fragt sich doch: welche Hintergrundinformationen haben die Leser für ihre Beurteilung und welche qualifizierten Argumente bringen sie vor? Wird da nicht vornehmlich zunächst einmal der Mainstream bedient und beißt sich da nicht die Katze in den Schwanz: der Mainstream erzeugt Mainstream Gewohnheiten und generiert sich selbst dabei?

Kulturelle Qualität erkennen verlangt Vorbildung, kritische Kompetenz, und diese Kompetenz ist nicht jedem durchschnittlichen Leser zuzusprechen oder zugänglich. Er braucht Hilfe, Beratung, Durchsicht in einer unübersichtlichen Masse von gedruckten Büchern und Titeln.

Innovationen haben es gerade bei digitalen Präsentationen schwerer als sonst. Sie kommen weniger leicht durch, auch weil das Netz Anonymität bei maximaler Reichweite ermöglicht.

Umgekehrt bedeutet das: literarische Kultur braucht Mediation, eine kritische Durchleuchtung des Angebots an Titeln, wenn sie nicht im Kreislauf der sogenannten Bestseller verkommen will, das ist nicht zu leugnen. Was bringen mir Tausende mögliche Titel, die ich zum Beispiel bei Amazon downloaden kann, wenn ich nicht weiß, welche Bücher sich zu lesen lohnen und welche Zeit ich gewillt bin mit dem Lesen dieser Bücher zu verbringen?

Zusammengefasst: die Digitalität der Präsentation von Literatur allein, die schnelle Verfügbarkeit der Bücher garantiert noch nicht eine literarische Innovation, die qualitativ überzeugen kann.

Dagegen aber können Verlage auf ein historisch bewährtes Auswahlsystem zurückgreifen. Sie bewerkstelligen seit langen Jahren eine Moderation, die auf Qualität setzt. Gut verlinkt sind sie in der Lage, die Literaturkritik in der Presse einzubeziehen, die ihnen auf gewohnte Weise gerne vertraut und in sehr vielen Fällen auch vertrauen kann.

Dass eine solche Garantie von Qualität notwendig ist, eine Empfehlung von Kundigen, Kennern, ist nicht von der Hand zu weisen und immer noch ein wichtiges Argument für das alte Verlagssystem. Allerdings gilt auch das: viele gute Autoren wurden, wie dann die Literaturgeschichte später berichtet, zunächst abgelehnt, ebenso erhielten schlechte Autoren den Zuschlag und wurden hochgelobt in die Riege von Weltliteratur, was die Geschichte dann korrigierte. Ihre Namen sind vergessen.

Das alte Verlagssystem der Lektoren mit Persönlichkeiten wie Unseld bewertete den Autor und mit ihm sein Werk auf der einen Seite, war aber auch in der Lage ihn zu demütigen. Man denke an die vielen später hochgelobten Autoren, die von Lektoren zunächst nicht beachtet wurden.

ZITAT: Siegfried Unseld

»Auf die Frage, wie in kürzester Form der Suhrkamp Verlag zu charakterisieren sei, antworte ich in der Regel: Hier werden keine Bücher publiziert, sondern Autoren.«

Siegfried Unseld war ein kompetenter Kenner, sein Urteil wurde gehört. Doch die Zeiten, in denen Persönlichkeiten wie er wirkten und wirken konnten, sind wohl vorbei. Und zurzeit verlassen sich die Verlage gerne sich auf das, was man das „Preiskarussell“ nennen kann, auf die turnusmäßigen Buchpreise vor allem der Buchmessen, die ausgerufen werden.

Wer hinschaut und vergleicht, merkt schnell: man spricht sich ab und teilt sich das offensichtlich auf. Einmal bekommt der eine Verlag die Chance einen Autor zu hypen, dann wieder ein anderer. Wichtig ist: die Autoren erhalten damit Pressewerbung und Fernsehauftritte.

Das System hat allerdings nicht in erster Linie mit der Qualität des Buches zu tun, und in jedem Fall ersetzt es nicht die Kultur einer qualifizierten Literaturkritik. Gedruckt werden zudem gerne Bücher von Leuten, die aus Politik und Fernsehen bekannte Namen haben. Das garantiert Absatz, besonders wenn in Talkshows die Bücher vorgestellt werden.

Das heißt also: das druckende Verlagswesen lebt heute wesentlich davon, dass sich die Bücher von Autoren, die auf ganz anderen Feldern tätig sind – in Wissenschaft, Sport oder Politik eben – deswegen verkaufen, weil ihr Namen bekannt sind. Haben wir eine VIP Literatur?

In jedem Fall sind diese Bücher vor allem gedruckte, meist sehr schöne und gut designte Bücher, dann in der Regel mit dem eingescannten elektronischen Zwilling.

Literaturkritische Sendungen, wie das literarische Quartett zum Beispiel, nehmen sowieso von rein digitalen oder Crossmedia Books keine Kenntnis. Es scheint solche Bücher für sie gar nicht zu geben?

Es wäre wichtig, da einzuhaken und zu fordern, dass Literaturkritik im 21. Jahrhundert die digitale Literatur wahrnimmt und anerkennt. Dass sie sich auch für genuin digitale Bücher zuständig erklärt. Das ist bisher leider nicht der Fall, im Gegenteil.

Ein Literaturkritiker des Berliner Tagesspiegel hat mir neulich schlichtweg entgegengehalten, er kritisiere digitale Bücher grundsätzlich nicht. Der Stapel an gedruckten Büchern, den er bearbeiten müsse, sei sowieso viel zu hoch, und er setze da Prioritäten.

Nun ist es nicht so, dass die Schwierigkeit einer kritischen Auswahl und Beurteilung nur das Problem der digitalen Literatur ist. Auch die gestreamten Filme auf Netflix kennen das Problem einer kritischen Mediation.

Welcher Film lohnt sich zu sehen, welcher nicht? Womit verschwende ich meine Zeit, welcher Film bringt mir etwas an Unterhaltung oder Erkenntnis? Die Plattform „Mubi“ betreibt ein Filmabonnement, das auf preisgekrönte Filme, auch ältere Filme spezialisiert ist und damit wirbt, dass man seine Zeit nicht mit schlechten Filmen vertun sollte.

Auch Apple TV + produziert eine anspruchsvolle Filmreihe, die von vornherein auf Qualität setzt. Nur im literarischen Bereich ist offensichtlich nichts dergleichen in Sicht, hier ist Luft nach oben.

Dem Beispiel von Mubi folgend könnte man ein Abonnement für von guten Kritikern moderierte und empfohlene digitale Bücher schaffen, aber von denen gibt es noch zu wenige. Bleibt das Prinzip Hoffnung.

Als Clauss von der Welt am Sonntag in der Ausgabe vom 4.4.2012 unser Crossmedia Projekt als „Aufbruch in eine neue Zeit bewertete“, waren wir damals noch ganz am Anfang, mehr als uns bewusst sein konnte und mehr als wir gehofft hatten.

Er schreibt:

Mittelfristig wird sich durch Geräte wie das iPad und andere E-Reader wohl auch die Art des Schreibens verändern – weg vom reinen Text, hin zu audio-visuellen Präsentationsformen eines Buches. „Das wird die ganze Kunstform verändern

Und ebenso beschrieb Michael G. Meyer am 28.5. 2012 unsere damaligen Veröffentlichungen als „Crossmedialen Urknall“ der Literatur.

Es gab also schon vor neun Jahren zunächst einmal eine positive Aufmerksamkeit für unser neue Format. Dennoch folgte auf diesen ersten Hype: Schweigen.

Wir waren damals zunächst einmal enttäuscht. Heute, zehn Jahre später, erweisen sich diese Sätze als Leuchtfeuer für eine Zukunft, die noch nicht in vollem Umfang Gegenwart ist, aber von der wir jetzt glauben möchten, dass sie es sein wird. Denn, soviel ist klar und das haben Clauss und Meyer damals erkannt: das Crossmedia Book ist nicht nur eine neue Form der Präsentation von Literatur.

Es geht um eine neue Art der Literatur, weg von historischen Traditionen, weg von bekannten Erzählformen und bekannten lyrischen Metaphern. Diese neue Literatur wird sich und sollte sich zu ihren Wurzeln und ihren Traditionen bekennen, das ist sogar extrem wichtig, das ist eine Voraussetzung dafür, das Innovation gelingen kann.

Aber auf dem Hintergrund der literarischen Traditionen, ihres Erbes, ist jetzt im 21. Jahrhundert, eine Disruption der Literatur mit weitreichenden Konsequenzen notwendig, muss sich eine digital orientierte Literatur neu aufstellen.

Wir haben heute, 2022, für das Crossmedia Book den Pionierstatus noch nicht hinter uns gelassen, leider. Umso wichtiger ist es auf Walter Benjamin hinzuweisen, einen Autor, Dichter und Philosophen, der 1892 geboren (gestorben 1940), theoretisch mit seinen Schriften – vor allem mit dem “ Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ und mit seinem Werk „Einbahnstraße“ Vorreiter für das Crossmedia Book war. Die Erstausgabe dieses Buches im Jahr 1928 liegt immerhin 93 Jahre zurück. Zu einer Zeit, in der ein Computer, digitale Schreibprogramme und Digitalität überhaupt nicht ansatzweise in Sicht waren, entwickelte Benjamin Leitlinien für ein neues literarischen Schreiben. Es kann behauptet werden, dass, auch wenn eine digitale Edition für ihn in keiner Weise auch nur vorstellbar war, die Ausgabe der „Einbahnstraße“ als digitales Crossmedia Book dem entspricht, was Benjamin als programmatisch für seine literarische Arbeit definierte.

DIE KONZEPTION DES CROSSMEDIA NOOK IN DER EINBAHNSTRAßE VON WALTER BENJAMIN

Guten Tag,

hier ist der zweite Podcast von Crossmediabook Berlin, ich bin Adelheid Seltmann.

In der ersten Ausgabe musste feststellt werden, dass bisher die crossmedia Einbindung von Musik, Videos und Bildern, wie sie im Journalismus inzwischen selbstverständlich ist, für die literarischen Texten und Buchausgaben noch nicht allgemein eingeführt wurde. Wir haben heute, 2022, für das Crossmedia Book den Pionierstatus noch nicht hinter uns gelassen, leider.

Umso wichtiger ist es auf Walter Benjamin hinzuweisen, einen Autor, Dichter und Philosophen, der 1892 geboren (gestorben 1940), theoretisch mit seinen Schriften – vor allem mit dem “ Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ und mit seinem Werk „Einbahnstraße“ Vorreiter für das Crossmedia Book war. Die Erstausgabe dieses Buches im Jahr 1928 liegt immerhin 93 Jahre zurück.

Zu einer Zeit, in der ein Computer, digitale Schreibprogramme und Digitalität überhaupt nicht ansatzweise in Sicht waren, entwickelte Benjamin Leitlinien für ein neues literarischen Schreiben.

Es kann behauptet werden, dass, auch wenn eine digitale Edition für ihn in keiner Weise auch nur vorstellbar war, die Ausgabe der „Einbahnstraße“ als digitales Crossmedia Book dem entspricht, was Benjamin als programmatisch für seine literarische Arbeit definierte.

Damit ist die Edition der „Einbahnstraße“ von Walter Benjamin an der Zeit: wohlgemerkt als Crossmedia Book mit Bildern, nicht als elektronisch gespiegeltes eBook – gerade, weil es solche eBook Ausgaben dieses Werkes in ausreichender Anzahl bereits gibt. Auch liegt eine gedruckte, sehr teure Gesamtausgabe von Walther Benjamins Werken im Suhrkamp Verlag vor.-

Walter Benjamin aber hatte die Vision eines neuen Buches, einer Revolution der Buchproduktion. Ihm war klar, dass die Ära des Buchdruckes seit Gutenberg vorbei ist.

Zitat Benjamin

Nun deutet alles darauf hin, dass das Buch in dieser überkommenen Gestalt seinem Ende entgegengeht.

Benjamin konnte vor 90 Jahren nichts von Computern, Plattform Publikationen und deren Bedingungen wissen, aber er prognostizierte wie wenige eine Entwicklung, die wir heute als den Prozess der Digitalisierung erfahren. Mit dieser Vorausschau ging er zum Teil sogar weit über das hinaus, was durchschnittlich auch im Jahr 2021 noch praktiziert wird. Es würde eine Literatur geben müssen, in der statistische und technische Diagramme ebenso wie Bilder den Texten hinzuzufügen seien, umfassende Erneuerungen seien zu erwarten.

Zitat Benjamin

An dieser Bilderschrift werden Poeten, die dann wie in Urzeiten vorerst und vor allem Schriftkundige sein werden, nur mitarbeiten können, wenn sie sich die Gebiete erschließen, in denen (ohne viel Aufhebens von sich zu machen) deren Konstruktion sich vollzieht: die des statistischen und technischen Diagramms. Mit der Begründung einer internationalen Wandelschrift werden sie ihre Autorität im Leben der Völker erneuern und eine Rolle vorfinden, im Vergleich zu der alle Aspirationen auf Erneuerung der Rhetorik sich als altfränkische Träumereien erweisen werden.

Ebenso sah er voraus, dass die Verfertigung von Texten auf der Schreibmaschine das Schreiben überhaupt verändern würden.

Zitat Benjamin

Die Schreibmaschine wird am Federhalter die Hand des Literaten erst dann entfremden, wenn die Genauigkeit typographischer Formungen unmittelbar in die Konzeption seiner Bücher eingeht.

Autoren, die ihre Texte im Computer in Textprogramme schreiben, werden das bestätigen können: durch den Verzicht auf handschriftliches Schreiben verändert sich die Art und Weise literarischer Produktion, verändern sich damit die Texte in ihrer Struktur. Warum das so ist, lässt sich im Zusammenhang der ästhetischen und philosophischen Darlegungen von Vilem Flusser, der 20 Jahre später die Gedanken von Benjamin aufnimmt und fortführt, nachvollziehen.

Zitat Vilem Flusser

Während die Buchstaben die Oberfläche des Bildes zu Zeilen aufrollen, zerbröckeln die Zahlen diese Oberfläche zu Punkten und Intervallen. Das lineare, prozessuale, historische Denken musste, über kurz oder lang, dem analytischen, strukturellen, null-dimensionalen Punktdenken zum Opfer werden.

In seinem „Passagen-Werk“ entwickelt Benjamin in späteren Jahren weiter, was er in der „Einbahnstraße“ quasi programmatisch entwirft. Dieses große, bis zum Ende seines Lebens ihm wichtige Werk ist, wenn man es mit dem heutigen Wissen einer Digitalität angeht, potentiell ein crossmedia Book. Die im Text enthaltenen Verlinkungen, kennzeichnet er als kleine schwarze Quadrate. Sie verlangen nach einer digitalen Edition, wie sie technisch damals noch nicht zu leisten war.

Benjamin ist damit der Entwicklung der Literatur um ein Jahrhundert voraus, und ganz sicher würde die Umsetzung der „Passagen“ ins Digitale, die bis heute leider noch nicht geschehen ist, das Besondere und Großartige dieses Werkes zeigen und dem Leser neu in seiner Komplexität zugänglich machen.

Zitat Jean Michel Palmier

Anfangs ein Ort, wo das Ungewöhnliche Zuflucht fand, nahmen die Passagen für Benjamin nach und nach eine phantastische Dimension an: sie symbolisierten die Geburt der Moderne, und ihrer Erforschung sollte kein geringerer Rang zukommen als eine Geschichtsphilosophie.

Es ist nicht nur die Form des Buches, die für Benjamin überholt und nicht mehr zeitgemäß war. Auch die Struktur des Poetischen würde sich damit ändern.

Zitat Benjamin

Die Arbeit an einer guten Prosa hat drei Stufen: eine musikalische, auf der sie komponiert, eine architektonische, auf der sie gebaut, endlich eine textile, aus der sie gewebt ist.

Dieses Zitat macht den Blick frei auf eine crossmedia Umsetzung und lässt sich so interpretieren: Texte mit „guter Prosa“, so Benjamin, enthalten schon im Stadium ihrer Produktion, ihres Entwurfes, einen musikalischen Hintergrund, einen optisch und gestalterischen Bildentwurf und nicht zuletzt dann den Text, auf den alles zuläuft.

Wir haben, um Benjamin zu folgen, der Crossmedia Ausgabe der Einbahnstraße deshalb Bilder von Joerg Franzmann aus dem Kontext der Club Szene Berlin Berghain (TIFFs aus einem Videofilm) hinzugefügt. Sie entsprechen die visuell dem, was Benjamins Texte sprachlich präsentieren: in die harte und klare Welt der Linien und der modernen Tagarchitekturen bricht eine Bild-Traumwelt in bruchstückhafter Erinnerung ein. Sie scheinen “dem Schutz der träumenden Naivität“ entwachsen zu sein und bleiben trotzdem zwischen den Balken der Wirklichkeit hängen.

Diese Bilder haben mit den Texten von Benjamin auch gemeinsam, dass man lange in sie hineinsehen muss, um zu erkennen, wieviel mehr in ihnen steckt, als man auf den ersten Blick zu glauben meint. Sie sind zum einen, wie Flusser es nennt, „apparatisch“ und zugleich konterkarieren sie diese apparatischen Linien, überlisten sie gleichsam in dieser ihrer Traumhaftigkeit.1

Dass dieser Text seine Zeitgenossen irritierte – und nicht nur diese – ist verständlich. Bloch registrierte 1918 einen „Montagestil“, den er dem Surrealismus zuordnet, und auch für Jean-Michel Palmier macht die „Einbahnstraße“ einen „verwirrenden Eindruck“.

Handelt es sich um Aphorismen? Eine solche Zuordnung liegt nahe, scheint sich anzubieten.

Doch damit würde nicht verstanden, dass Benjamin ein erzählerisches Konzept verfolgt, das sich von einer auf den Stoff fokussierter Prosa distanziert. Es geht ihm nicht um Beschreibungen, Figuren, ihre Biographie, ihre Schicksale. Benjamin will in „Einbahnstraße“ nicht erzählen im üblichen, romanhaften Sinn, setzt sich vom „story telling“ ab. Er begründet das unter anderem in seinem literarischen Essay „der Erzähler“ und in „Über den Begriff der Geschichte.“

Gleich in den ersten Sätzen des Textes „Tankstelle“ in der Einbahnstraße erteilt er einem literarischen Erzählen eine grundsätzliche Abfuhr. Diese Art von Literatur ist für ihn bloß stofflich und kann künstlerisch nicht ernst genommen werden.

Zitate Benjamin

Unter diesen Umständen kann wahre literarische Aktivität nicht beanspruchen, in literarischem Rahmen sich abzuspielen – vielmehr ist das der übliche Ausdruck ihrer Unfruchtbarkeit.

Der Künstler geht auf die Eroberung von Gehalten. Der primitive Mensch verschanzt sich hinter Stoffen.

Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. Die Jetztzeit, die als Modell der messianischen in einer ungeheuren Abbreviatur die Geschichte der ganzen Menschheit zusammenfasst, fällt haarscharf mit der Figur zusammen, die die Geschichte der Menschheit im Universum macht.

Flusser diskutiert diese Problematik in Absolute 2003 später so:

Zitat Flusser

Lineare Koden fordern einer Synchronisation ihrer Diachronizität. Sie fordern fortschreitendes Empfangen. Und das hat eine neue Zeiterfahrung zur Folge, nämlich die einer linearen Zeit, eines Stroms unwiderruflichen Fortschritts, der dramatischen Unwiederholbarkeit, des Entwurfs: kurz der Geschichte…….Die kodifizierte Welt, in der wir leben, bedeutet nicht mehr Prozesse, ein Werden, sie erzählt keine Geschichten, und leben in ihr bedeutet nicht handeln. Vorläufig erzählen wir noch TVGeschichten. Aber diese Geschichten haben doch schon ein nachgeschichtliches Klima.

Auch wenn Flusser hier philosophisch fortführt, was Benjamin angestoßen hat, bedeutet das nicht, dass der schmale Band der „Einbahnstraße“ nicht durchaus, allerdings in hoch konzentrierter Form erzählerische Inhalte bietet.

Benjamin kondensiert seine Inhalte, die dabei dennoch, gerade dadurch, eine umfassende Qualität, Bandbreite und zugleich Variabilität erhalten.

Da sind zum einen die Reisebeschreibungen, die in wenigen Sätzen Eindrücke und Erlebnisse umreißen.

Zitat Benjamin

Heidelberger Schloss: Ruinen, deren Trümmer gegen den Himmel ragen, erscheinen bisweilen doppelt schön an klaren Tagen, wenn der Blick in ihren Fenstern oder zu Häupten den vorüberziehenden Wolken begegnet. Die Zerstörung bekräftigt durch das vergängliche Schauspiel, das sie am Himmel eröffnet, die Ewigkeit dieser Trümmer. 18

Wie oben schon erwähnt, spielen Träume für Benjamin eine bestimmende Rolle. Diese Traumtexte sind besonders berührend und poetisch.

Zitat Benjamin

Denn nur vom anderen Ufer, von dem hellen Tage aus, darf Traum aus überlegener Erinnerung angesprochen werden. Dieses Jenseits vom Traum ist nur in einer Reinigung erreichbar, die dem Waschen analog, jedoch gänzlich von ihm verschieden ist. 19

Und, von einem großen pädagogischen Verständnis zeugen die Beobachtungen der Kinder und ihrer kindlichen Vorstellungen.

Zitat Benjamin

Kinder nämlich sind auf besondere Weise geneigt, jedwede Arbeitsstätte aufzusuchen, wo sichtbar die Betätigung an Dingen vor sich geht. Sie fühlen sich unwiderstehlich vom Abfall angezogen, der beim Bauen, bei Garten- oder Hausarbeit, beim Schneidern oder Tischlern entsteht. 20

Jeder Stein, den es findet, jeder gepflückte Blume und jeder gefangene Schmetterling ist ihm schon Anfang einer Sammlung, und alles, was es überhaupt besitzt, macht ihm einige Sammlung aus.21

Sowieso montiert Benjamin in seinen Texten nicht kopflastig Wissen und Gedanken. Der Text enthält viele Stellen, die von einer hohen Sensibilität, von Emotionen und Empfindlichkeit zeugen.

Zitat Benjamin

Ich saß nachts mit heftigen Schmerzen auf einer Bank. Mir gegenüber auf einer zweiten nahmen zwei Mädchen Platz. Sie schienen vertraut sich besprechen zu wollen und begannen zu flüstern. Niemand außer mir war in der Nähe, und ich hätte ihr italienisch nicht verstanden, so laut es sein mochte. Nur konnte ich bei diesem unmotivierten Flüstern in einer mir unzugänglichen Sprache mich des Gefühls nicht erwehren, es lege sich um die schmerzende Stelle ein kühlender Verband.22

Es ist ein neues Erzählen, das nur scheinbar ein Verwirrspiel treibt, ein Erzählen allerdings, das einen anderen Leser erwartet, als den, der im bürgerlichen Wohnzimmer Romane liest, eingetaucht in die Beschreibung von langatmigen Szenerien und verstrickt in das Schicksal der vom Autor präsentierten Figuren und Protagonisten, ein Erzählen, mit dem er den Leser erreichen will, der nachdenkt.

Eine digitale Crossmedia Ausgabe des Textes kann dem Leser und seiner Rezeption solcher Texte entgegenkommen, dies gerade, wenn er sich überfüttert und überfordert von Informationen und Erzählungen in den Nachrichten fühlt, wenn er eher gelangweilt vom leeren Geschwätz in anhaltenden Diskussionen, zum Smartphone oder Tablet greift und auch während der Bahnfahrt oder im Flieger Gewinn bringend Sätze in sich aufnimmt wie:

Zitat Benjamin

Überzeugen macht unfruchtbar. 23

Glücklich sein heißt ohne Schrecken seiner selbst innewerden können.24

Nicht allein die poetische Struktur des Textes von Benjamin ist wegweisend für eine neue Literatur. Es sind vor allem die Inhalte, die Aussagen oder Prognosen, die, man möchte sagen, erschreckend aktuell sind.

Zitat Benjamin

Ist einmal die Gesellschaft unter Not und Gier so weit entartet, dass sie die Gaben der Natur nur noch raubend empfangen kann, dass sie die Früchte, um sie günstig auf den Markt zu bringen, unreif abreißt und jede Schüssel, um nur satt zu werden, leeren muss, so wird die Erde verarmen und das Land schlechte Ernten bringen. 25

Dieses Problem diskutiert nicht nur die deutsche Gesellschaft zurzeit und sucht nach einer Lösung oder scheint sie zu suchen.

Jeder Einkauf in einem Supermarkt bestätigt auf erschreckende Weise die Realität dieser Sätze.

Ebenso analysiert Benjamin die heutige Situation, in der jeder weiß, was getan werden müsste, um die weltweiten Katastrophen, nicht nur die des Klimas, zu verhindern, während nichts oder zu wenig getan wird.

Drastisch präzis schreibt er in der Einbahnstraße:

Zitat Benjamin

Wo der dunkle Trieb des Tieres – wie zahllose Anekdoten erzählen – aus der nahenden Gefahr, die noch unsichtbar erscheint, den Ausgang findet, da verfällt diese Gesellschaft, deren jeder sein eigenes niederes Wohl allein im Auge hat, mit tierischer Dumpfheit, aber ohne das dumpfe Wissen der Tiere, als eine blinde Masse jeder, auch nächstliegenden Gefahr, und die Verschiedenheit individueller Ziele wird belanglos vor der Identität der bestimmenden Kräfte. Wieder und wieder hat es sich gezeigt, dass ihr Hängen am Gewohnten, nun längst schon verlorenen Leben so starr ist, dass es die eigentliche menschliche Anwendung des Intellekts, Voraussicht, selbst in der drastischen Gefahr vereitelt. Dahingegen wird die Erwartung, dass es nicht mehr so weiter gehen könne, eines Tages sich dafür belehrt finden, dass es für das Leiden des Einzelnen wie der Gemeinschaften nur eine Grenze, über die hinaus es nicht mehr weiter geht, gibt: die Vernichtung.

Man kann nur wünschen, dass solche Sätze in ihrer Genauigkeit, Konkretheit und analytischen Klarheit heute von möglichst vielen gelesen, verstanden und wahrgenommen werden.

Sie sind bitter, und es fällt schwer, diesen Pessimismus Benjamins nicht zu teilen, auch wenn man die Hoffnung nicht aufgeben möchte, weil sie es doch sein sollte, die zuletzt stirbt.

Zum Abschluss sei noch bemerkt:

die Schrift „das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ war schon 1968 ein Must für uns als Studenten in Frankfurt. Mit Bazon Brook zum Beispiel diskutierten wir diesen Text heftig und mit heftiger Verwunderung, auch weil Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule geistig und räumlich in der Nähe waren.

Aber erst in den letzten beiden Jahren kam mir die Tragweite, das in die Zukunft Weisende der Texte Benjamins zu Bewusstsein.

Dass ich den Text der „Einbahnstraße“ Wort für Wort ins Programm neu eingeben musste, war sicherlich eine schon mühsame Arbeit, aber sie brannten ihn mir in die Haut und nötigten mich zu einer weiteren neuen Auseinandersetzung.

Zwischen 1928 liegt nicht nur der zweite Weltkrieg, eine Phase der Rekonstruktion und Aufarbeitung des Nationalsozialismus, sondern auch eine digitale Revolution. Fragen über Fragen zudem, und auf der Suche nach Vorläufern und Vorbildern für unser Crossmedia Projekt fand ich außer Vilem Flusser vor allem ihn.

Meine Verwunderung von damals bei der ersten Begegnung mit Benjamin ergänzte sich dabei zu einer zunehmenden Bewunderung dieses Dichters und eben nicht nur Philosophen, der auf der Flucht am Grauen des zweiten Weltkrieges und dem Holocaust verzweifelte.

Unsere Crossmedia Books sind bei Apple Books und Amazon Kindl auf den Webseiten gelistet z.B. als „interaktive Bücher“. Es sind also es keine reinen eBooks, keine Audio Books und keine Literaturfilme oder Videos. Interaktiv muss dabei bedeuten, dass es sich um Bücher in einem neuen Format handelt, das alles dies beinhaltet: die Wiedergabe von poetischen Texten im eBook Format, deren Einsprache als Audiofiles, die Unterlegung der Audiofiles mit Musik, das Hinzufügen von Fotobildern und Videos und zusätzlich assoziierte Kommentare und Erläuterungen. Es geht damit um eine komplex ausgestattete Präsentation von Poesie, wie sie seit mindestens 2021 mit den Programmen von Apple und Amazon möglich ist. Allerdings fehlt dem Format des Crossmedia Books gerade eben wegen seiner komplexen Programmatik bisher eine passende Platzierung auf den Webseiten der Plattformen. Es muss uns jetzt darauf ankommen, dieses Format mit seinen vielfältigen Möglich- keiten bekannt zu machen.

Digital Art Poetry- das digitale Literaturformat

Hier ist der Podcast von Crossmedia Book Berlin.

Ich bin Adelheid Seltmann.

In der 3. Folge wird es um analoge und digitale Kultur und eine Begründung des digitalen Formats des Crossmedia Books gehen.

 

Unsere Crossmedia Books sind bei Apple Books und Amazon Kindl auf den Webseiten gelistet z.B. als „interaktive Bücher“.

Es sind also es keine reinen eBooks, keine Audio Books und keine Literaturfilme oder Videos. Interaktiv muss dabei bedeuten, dass es sich um Bücher in einem neuen Format handelt, das alles dies beinhaltet:

die Wiedergabe von poetischen Texten im eBook Format,

deren Einsprache als Audiofiles,

die Unterlegung der Audiofiles mit Musik.

das Hinzufügen von Fotobildern und Videos

und zusätzlich assoziierte Kommentare und Erläuterungen.

Es geht damit um eine komplex ausgestattete Präsentation von Poesie, wie sie seit mindestens 2021 mit den Programmen von Apple und Amazon möglich ist.

Allerdings fehlt dem Format des Crossmedia Books gerade eben wegen seiner komplexen Programmatik bisher eine passende Platzierung auf den Webseiten der Plattformen.

Es muss uns jetzt darauf ankommen, dieses Format mit seinen vielfältigen Möglich- keiten bekannt zu machen.

Dieses neue Format des Crossmedia Books ist eigentlich ein sehr altes.

Es ist belegt, dass zum Beispiel im China des 2. Jahrhunderts bereits in Schriftform vorhandene poetische Texte gesungen und getanzt vorgetragen wurden und für sie Bildformationen vorhanden waren.

Eine solche komplexe Darstellung von Poesie war üblich, sie war keineswegs nur spielerisch unverbindlich, sondern auch gesellschaftskritisch bzw. herrschaftskritisch.

Das Gleiche gilt für die Poesie des Mittelalters, die Lyrik von Walther von der Vogelweide unter anderem.

Das heißt, die Begrenzung des poetischen Textes als gedruckt gelesener geschieht erst in der Neuzeit nach Erfindung des Buchdrucks in der sog. der Gutenberg Ära.

Sie ist damit nur wenige Jahrhunderte alt, und im 21. Jahrhundert mit den neuen digitalen Möglichkeiten können und sollten die alten komplexen Präsentationsformen auf einer neuen Ebene wieder hergestellt werden.

Was aber verändert sich poetisch und ästhetisch durch die digitale Neuformation gegenüber den historischen Formen der Darstellungen?

Inwieweit überschneidet das Alte, Analoge sich mit dem digitalen Neuen?

Und auch: was ist dennoch grundsätzlich anders? Welche Differenzen gibt es?

Die gesellschaftliche Wirklichkeit hat durch die digitale Revolution in wenigen Jahrzehnten so sehr verändert, dass wir uns heute inzwischen schwer vorstellen können, wie sich noch 1990 der Alltag gestaltete.

Wie war das noch, als nicht jeder ein Mobiltelefon ständig bei sich trug und damit zu Bett ging und morgens den Tag begann?

Videokonversationen waren nicht vorstellbar, bestenfalls kamen sie in Sciencefiction Romanen oder Filmen vor.

Diese durchgreifenden Veränderungen vollzogen sich zwar nicht in allen Bereichen und nicht in allen Ländern der Erde gleichzeitig und gleich heftig, dennoch sind sie erheblich, und vieles sehen wir heute mit ganz anderen Augen als noch vor 30 Jahren.

Sie betreffen, das ist nicht zu leugnen, alle Bereiche des kulturellen Handelns, vor allem den der Kommunikation.

So lesen wir meistens Texte, Nachrichten und Magazine auf dem Mobiltelefon oder Tablet Computer.

Video und Bildinformationen können von jedem Mobilfunk ins Netz gepostet werden,

In den sozialen Medien bestimmten Apps wie Twitter, WhatsApp und Instagram den gesellschaftlichen Dialog.

Ist das Lesen von gedruckten Büchern der Gutenberg Ära damit überfällig und überholt?

In jedem Fall: gedruckte Zeitungen und Magazine gibt es inzwischen nur noch wenige und in kleinen Auflagen.

Davon, dass Bücher vor allem, weil der Zugriff sofort erfolgen kann, online heruntergeladen werden, nehmen die Leser zunehmend Gebrauch.

Dagegen haben wiederum Autorenlesungen, nicht nur von poetischen Texten, Konjunktur. Das Vorlesen in einem Event, begleitet von Diskussionen bei Getränken und Speisen, wird in jedem Fall inzwischen zunehmend dem „einsamen-Lesen“ vorgezogen.

Ist das nicht ein wirklicher Gewinn?

War es nicht sowieso eine Verarmung der Präsentation von Literatur im gedruckten Buch, die man jetzt nachträglich nur bedauern kann und die wiederum die Zeit vor der sog. Gutenberg Ära nicht so nicht kannte?

Allerdings:

Es gibt vor allem in der Bildungselite auch ein Beharren auf alten Gewohnheiten der Literaturrezeption. Vielleicht werden noch Livepräsentationen akzeptiert und sogar institutionalisiert, aber digitale Möglichkeiten der Darstellung nicht oder nur zögerlich wahrgenommen.

Vor allem die Älteren, die in Deutschland noch bestimmend sind für Ausbildung und Bildung, verharren, so scheint es, in den Mustern des Analogen, wie sie von den Schriftstellern der letzten Jahrhunderte geprägt wurden.

Dabei ist es fast unmöglich und in jedem Fall unsinnig das weitreichende kreative Potential der Videos, der Bilder und Texte in den neuen Medien zu übergehen oder zu leugnen.

Ein solcher Versuch, digitale Kultur als peripher oder als Übergangsphänomen zu deklassieren, muss scheitern. Dafür ist die Bedeutung und Wirkung der Apps auf der einen Seite und der sozialen Medien auf der anderen zu weitreichend und offensichtlich.

Wurden die Möglichkeiten und Bedingungen einer digitalen Kultur gerade hier noch nicht in ihrer Essenz begriffen?

Die Frage kann nur beantwortet werden, wenn man den prinzipiellen Unterschied von Digitalität und analoger Präsenz und damit den kulturellen Stellenwert des Digitalen bedenkt.

Analog ist: wenn ich zum Beispiel am Strand sitzend auf das Meer schaue und am Horizont die Sonne untergeht.

Dann ist eines als direkte Erfahrung klar für mich: die Erde ist eine Scheibe, die Sonne bewegt sich und der Horizont markiert die Linie, hinter der sie verschwindet. Die Sterne leuchten später in fester Formation.

Dass Kopernikus im 16. Jahrhundert erkannte, dass das ebenso nicht stimmt und dem geozentrischen Weltbild widersprach, ist der entscheidende Schritt weg von einem rein analogen Denken.

Das Offensichtliche lässt sich begreifen. Es entspricht der persönlichen, direkten Erfahrung.

Die Erkenntnisse der mittelalterlichen Wissenschaftler dagegen, die in der Folge immer differenzierter bestätigt werden, verlangen eine Übersetzung hin ins Abstrakte.

Das Gleiche gilt für die Erfindung der Uhr und ihre mechanischen Möglichkeiten der Zeitmessung. Die analoge Sonnenuhr wurde ab dem dreizehnten Jahrhundert durch eine mechanische Uhr und damit eine neue Art der Zeitmessung ersetzt.

Von da an wurde die Zeit anders gemessen, als es der persönlichen Erfahrung entspricht, nämlich abstrakt. Denn während ich subjektiv eine Stunde entweder als unendlich lang erfahren kann z.b. auf einen Zug wartend, oder sehr kurz, weil ich unter Druck etwas fertig stellen muss, misst die Uhr immer gleich.

Das Abstrakte der Zeit wird dem Konkreten des Lebensablaufes übergestülpt.

Auf dem Weg hin zu einer kulturellen Abstraktion spielt auch die neue Erfahrung der Geschwindigkeit eine entscheidende Rolle.

Auf dem Pferd reitend sind nicht nur die Mongolen im Mittelalter schneller gewesen, das war noch eine analoge Erfahrung.

Mit der Erfindung der Eisenbahn und dann später der des Autos und Flugzeugs ergeben sich Möglichkeiten einer schnelleren Bewegung als es den Körpern der Menschen bislang erfahrbar war.

200 Pferdestärken im Auto überfordern sehr viele mit bösen Folgen und auch im Flugzeug müssen sich die Menschen anpassen an eine abstrakte Schnelligkeit.

Eine weitere geschichtsträchtige und bahnbrechende Erneuerung in Richtung Abstraktion erfuhr die Menschheit durch Boole, der 1860 mit der nach ihm benannten „Boolschen Algebra“ den entscheidenden Schritt vollzog, ohne den Digitalisierung nicht denkbar gewesen wäre.

Während im Analogen die zehn Finger die Konkretion des Zahlensystems jedem zugänglich machen, codierte er Zahlen in Abfolgen von 0 und 1.

Damit war das „Bit“ erschaffen, und es war dann nur ein kleiner, eigentlich einfacher, dennoch entscheidender Schritt, diese Information elektrisch umzusetzen in positive und negative Polung.

Der Prozess der Digitalisierung konnte beginnen.

So einfach das klingt, hier verkürzt dargestellt, so weitreichend und revolutionär veränderte dies die Kultur der Menschheit.

In „eine kurze Geschichte der Digitalisierung“ schreibt Martin Burckhardt über die sog. Boolsche Formel:

„Wenn ich gesagt habe, die Boolsche Formel traf mich wie ein Blitz, so folgte dieser Erleuchtung die Verwunderung, dass auf den Blitz kein Donnerschlag folgte, sondern ein andauerndes, in diesem Andauern geradezu ohrenbetäubendes Schweigen. Denn obschon mich dieses Gedankenbild, diese Formel, seitdem wie ein Leitstern begleitet, bin ich noch niemandem begegnet, der sie mit jener Selbstverständlichkeit aufgenommen hätte, mit der man auf die Marotten eines guten Bekannten reagiert.“

 

Tatsächlich dauert dieses Schweigen bis heute bei allen an, bei denen Digitalisierung noch immer auf höchste Skepsis stößt, weil sie sich weigern oder unfähig sind diesen Schritt der Codierung in seiner Abstraktion zu vollziehen.

Vilèm Flusser beschreibt in Absolute die darauffolgende rasante Entwicklung der digitalen Revolution, die ohne diesen Umschlag vom Analogen hin zum Abstrakten der Codierungsprozesse nicht denkbar gewesen wäre.

Zitat, „Absolute“

„Das lineare, prozessuale, historische Denken musste über kurz oder lang, dem analytischen, strukturellen, null-dimensionalen Punktdenken (der Codes) zum Opfer werden.“

 

Er begründet die Abkehr vom analogen, historischen Bewusstsein folgendermaßen:

„Der Mensch besitzt die Fähigkeit, Erfahrungen zu erwerben und diese an künftige Generationen weiterzugeben. Er ist ein historisches Wesen, er kann neue Informationen erzeugen und speichern.

Diese seine Fähigkeit widerspricht dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt, dass die Summe der Informationen in einem geschlossenen System in der Welt ständig abnehme. Geschichte ist demnach antinatürlich.“ 6.3.

Aber was ist natürlich und was nicht?

Ganz sicherlich gibt es wohl „schwarze Löcher“ im Weltall, das lässt sich mathematisch und physikalisch herleiten.

Aber meine persönliche Vorstellung versagt da, wo ich Einsteins gekrümmten Raum beim besten Willen nicht in meiner Einbildung realisieren kann.

Es gilt diesen Zwiespalt zwischen abstrakter Wissenschaftlichkeit und analogem Empfinden zu erkennen.

Es kommt darauf an, die Verunsicherung auszuhalten, die davon ausgeht, dass mein analoges Verstehen nicht ausreicht, um diese wissenschaftliche Erkenntnis für mich konkret zu verifizieren.

Dennoch: Die alten naiven Vorstellungen der vorkopernikanischen Zeit sind nicht aufrecht zu erhalten, das ist klar.

Aber es kann auch nicht sein, dass ich meine persönliche Vorstellungskraft leugnen muss, die mir nun einmal als eine begrenzte vorgegeben ist.

Flusser konstatiert und fordert deshalb: Zitat

Die Technocodes stellen sich vor die Gegenstände, anstatt sie vorzustellen, und verstärken dadurch die Entfremdung.“

 

„Es gibt keine Parallelen in der Vergangenheit, die uns erlauben, den Gebrauch der Technocodes zu erlernen. Aber wir müssen ihn lernen, sonst sind wir verurteilt, in einer bedeutungslos gewordenen, techno-imaginär kodifizierten Welt ein sinnloses Dasein zu fristen.

Flussser hat natürlich recht auf der einen Seite, aber er irrt auf der anderen:

die Technocodes lassen sich nicht von jedem lernen, der an digitaler Kultur teilhaben will. Der Umgang mit ihnen bleibt de facto denjenigen vorbehalten, die in der Lage sind die Programmiersprachen zu entschlüsseln. Aufgrund ihrer Abstraktheit ist eine konkrete Erfahrung ihrer Bedeutungen für den durchschnittlichen User nicht möglich.

Allerdings konnte Flusser 2003 noch nicht wissen, in welcher Weise es gelingen würde, die Abstraktheit der Codes zu überlisten und kulturell einzubinden.

Er konnte nicht voraussehen, dass durch die Bildlichkeit der Windows Programme und durchschlagend dann durch die Apps eine analoge Darstellung möglich sein würde.

Bill Gates und Steve Jobs war klar war geworden, dass es auf die sog. „Usability“ ankäme, und die verlangte die Imagination des Analogen, mindestens so, dass die Möglichkeit unmittelbaren Verstehens von Bedeutungen hergestellt werden kann.

Nur mit Rücksicht auf das analoge Verständnis des durchschnittlichen Nutzers dieser Geräte ließen sie sich diese auch mit Erfolg verkaufen.

Steve Jobs speziell dachte von dem analogen Design her.

Er erfand die einfache und international verständliche bildliche Darstellung der Apps auf den Bildschirmen. Dies alles im Anschein des Analogen

Denn nur so, mit dieser Kostümierung, konnte ohne Kenntnis der zugrunde liegenden Programmierung die Informationen der Codes genutzt werden.

Auch dass Roboter in menschlicher Nachbildung ihre Arbeiten vornehmen, gehört in diese Kategorie der analogen Umformung des Digitalen.

Das Kostüm kann amüsieren und verwirren, aber es erleichtert den Umgang mit diesen Apparaten. Der Nutzer kann sich an die Kostümierung gewöhnen, nimmt die digitalen Programme in ihrer Scheinhaftigkeit schließlich gar mehr nicht wahr und baut den analogen Umgang mit ihnen in seinen Alltag ein.

Inzwischen trägt fast jeder sein Mobilfunkgerät ständig bei sich und verständigt sich über diverse Apps mit seinen Mitmenschen.

Ohne diese Geräte, das gilt inzwischen weltweit, ist unsere Kultur nicht mehr denkbar.

Geladen von Solarmodulen verkauft selbst die afrikanische Bäuerin verkauft inzwischen über ihr Mobilfunkgerät ihre Früchte und tätigt ihre Bankgeschäfte.

Von Codes hat sie keine Ahnung, die braucht sie auch nicht zu haben.

Dass die Daten der Nutzer von denjenigen erfasst und gespeichert werden können,

die sie programmierten, gehört gleichfalls zur neuen Wirklichkeit, die die digitale Revolution geschaffen hat.

Denn es bedeutet, dass diejenigen, die diese Tools wirklich kennen, für die ihre Abstraktheit nicht etwas Fremdes ist, ihr Wissen als Vorteil nutzen können.

Es ist ein Herrschaftswisssen das ihnen einen absoluten Vorsprung verschafft.

Nutzen lässt sich dieser Vorsprung vor allem auch deshalb, weil mit dem zielgenauen Zugriff der Algorithmen Werbung jetzt effektiver als jemals betrieben werden kann, eine Möglichkeit, die massiv und mit großem Erfolg von der Wirtschaft und dem Handel in Anspruch genommen wird.

Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass dies dann die eigentliche gesellschaftliche Umwälzung ist, die mit der Boolschen Formel angestoßen wurde: die unglaublich schnell in wenigen Jahrzehnten um sich griff und die gesellschaftliche Wirklichkeit weltweit veränderte.

Halten wir aber fest: die Abstraktheit der Codes bleibt abstrakt, die Konkretion des Umgangs mit den in den Medien erreichbaren Codierungen ist nichts anderes als eine Täuschung, die sich wie ein Schleier über die Technik legt.

Die Apps geben analogen Umgang vor, aber sie sind es nicht.

Sie bewahren für die meisten im analogen Alltag ein nicht einschaubares Geheimnis unter der ästhetisch eingerichteten Bildoberfläche.

Mit diesem Betrug, wenn man so will, gehen alle Konsumenten global zurzeit täglich um. Der Zwiespalt zwischen sinnlich konkreter Erfahrung und dem abstrakten Hintergrund der Apps auf den Bildschirmen der Computer durch eine simple konkrete Bildlichkeit prägt unser Leben und damit unsere gesamte Kultur,

die Kultur des Handels und Verkaufs (z.B. Amazon),

der Musik (Apple Musik, Streaming Dienste),

der Videos (You Tube, Tiktok) ,

und der Kommunikation (Facebook, Meta, Instagram, WhatsApp usw.)

Als am 30.07.2020 die IT GEOs Tim Cook von Apple, Sundar Pichai von Google, Mark Zuckerberg, Facebook, und Jeff Bezos von Amazon von den Senatoren des amerikanischen Kongresses zum Rapport zitiert wurden, war das eine merkwürdige Veranstaltung:

Ihre Firmen waren damals von studentischen, sehr jungen Programmierern gegründet worden. Doch keiner der jugendlichen Gründer damals konnte ahnen, welche Folgen das, was sie mit ihren Programmen in die Welt setzten, haben würde.

Sie hatten vor allem ihre immense Wirtschaftsmacht und damit auch ihre politische Bedeutung als Multimilliardäre nicht vorausgesehen.

Bezos revolutionierte den Warenverkauf, Zuckerberg die Kommunikation, Pichai mit den Google-Suchmaschinen den Zugang zu Informationen.

Aber alle, das wurde bei dieser Konsultation deutlich, fühlten sich unschuldig gegenüber den Vorwürfen und Verdächtigungen, die ihnen von den Senatoren in Washington entgegenkamen.

Sie hatten doch eigentlich nur?

Ja was, mit Codes operiert, Programme entworfen ….oder nur „gespielt“?

Die Neuschöpfung einer digitalen Weltkultur jedenfalls war keineswegs ihre Absicht, das hatten sie nicht vorausgesehen.

Sie konnten und wollten sich dafür dann auch nicht verantwortlich fühlen.

Oder waren sie es doch?

Aufgrund der immensen Anhäufung ihres Kapitals und ihrer damit wirtschaftlichen Bedeutung waren sie von der amerikanischen Regierung nach Washington gebeten worden. Aber ihre politische Bedeutung, begriffen die GEOs erst nachträglich.

Sie hatten so ungefähr den Status von Zauberlehrlingen, denen nicht von vornherein klar war, was sie da eigentlich in Gang gesetzt hatten mit dem Zauber der digitalen Codes.

Dagegen schienen erkennbar deutlich die Regierungsvertreter während der Video-Schalte auf CNN hilflos zu sein.

Für die Senatoren des Kongresses mit ihren verhältnismäßig kleinen Gehältern und ihrem begrenzten technischen Wissen waren die Großen der ITBranche nicht wirklich erreichbar.

 

Man konnte an das Gedicht „der Zauberlehrling“ denken:

 

Ach, da kommt der Meister!

Herr, die Not ist groß!

Die ich rief, die Geister

Werd ich nun nicht los.

„In die Ecke,

Besen! Besen!

Seids gewesen.

Denn als Geister

Ruft euch nur zu seinem Zwecke,

Erst hervor der alte Meister.

Heißt es bei Wolfgang von Goethe.

Nur einen Meister gibt es hier nicht.

Auch die Regierungen weltweit dürfen sich nicht als Meister fühlen, besonders nicht, die demokratischen: die neuen Medien vor allem sind bisher nicht wirklich und wirkungsvoll begrenzt worden.

Wer kann die GEOs zwingen?

Auch der Marktmacht von Amazon wurde bisher nicht effizient begegnet.

Dagegen hatte es den Anschein, dass allen Beteiligten bei dieser Anhörung nur in Grenzen bewusst war, dass hier die Agenten einer neuen Weltkultur auf der Bank saßen. Denn klar ging es nicht nur um die Macht des Geldes und die Aktienfonds der Börsen, sondern auch um ihren immensen kulturellen und damit politischen Einfluss.

Mit den Algorithmen hatten GEOs ihre Kunden in der Hand, denn diese ihre Kunden waren darauf angewiesen, der analogen Täuschung der Webseiten und der Bildgebungen der Apps zu vertrauen, nur so konnten sie die Vorteile der Digitalität für sich in Anspruch nehmen.

Und dies von der Bezahlapp bis zur schnellen Lieferung von Waren, von dem Zugang zu Informationen bis zu weltweiten Kontakten und Telefonaten über WhatsApp, Instagramm und Facebook.

Flusser hatte diese Entwicklung nicht voraussehen und so wenig die GEOs einschätzen können. Eines aber sah er richtig: Zitat

Tatsächlich kann es Geschichtlichkeit, eine Kontinuität der Weitergabe von Erfahrungen in dieser digitalen Kultur mit den in Codes grundierten Medien so nicht mehr geben, die analoge Bewegung von A nach B ist aufgehoben.

Das bereits Vorhandene kann im Umgang mit den Computern, auch wenn sie die Programme in analog erschienenen Bildern darstellen, nicht als Bewährtes behalten werden. Die Updates der Programme sind nicht nur möglich, sondern notwendig, ihre ständige Weiterentwicklung ist System bedingt.

Das Gedächtnis wiederum ist nicht mehr das des Einzelnen,

So viele Fakten, wie sie ein Computer abspeichern und ausweisen kann, sind keinem menschlichen Gehirn verfügbar. Ein Auswendiglernen ist unnötig.

Jederzeit sind alle Fakten abrufbar, wenn die richtigen Kanäle angezapft werden.

Das Computergedächtnis ist in jedem Fall überlegen.

Der Brockhaus ist bestenfalls noch eine Antiquität, die das Regal belastet.

Die von Supercomputern und ihrer KI betriebenen Möglichkeiten, die besten Schachspieler oder GO Spieler der Welt zu besiegen, sind legendär.

Offen ist, was diese Computer noch alles lernen können, welche Fähigkeiten ihnen mit Deep Learning erwachsen.

Damit auch aber ist ein gesellschaftlicher bzw. institutionell festgelegter Bildungskanon obsolet. Vorrangig muss den Lernenden vermittelt werden, die unabsehbar vielfältigen Informationen zu ordnen und zu werten. Was auch bedeutet, dass das alte Schulsystem für das 21. Jahrhundert nicht mehr taugt. Es muss grundsätzlich reformiert werden, und dies umso mehr als für die heutigen Jugendlichen die KI die Zukunft bestimmen wird.

Ebenso verändert hat sich auch das Übersetzen von Texten und Nachrichten. Übersetzungs-Apps sind auf jedem Mobiltelefon verfügbar. Texte können spontan in jede Sprache übersetzt werden.

Zusammengefasst:

Dass die technischen Prozesse der Codierung, das Verständnis und die Beherrschung der Codiersprachen den durchschnittlichen Usern nicht zugänglich ist, ist eine Tatsache, die gerade auch im Hinblick auf eine digitale Kultur nicht abgestritten werden kann.

Davon ist auszugehen.

Aber auch das gilt:

Unmittelbare, konkrete und natürliche Erfahrungen können digital nicht ersetzt und kompensiert werden.

Sie können nur analog gemacht werden und müssen analog bleiben.

Die Gefahr eines Spaltungsprozesses zwischen analoger und digitaler Kultur allerdings, der hier entstehen könnte, ist nicht zu leugnen.

Denn sonderte sich eine analog fixierte Kultur gesellschaftlich von der ab, die digitales Denken kulturell prozessiert, entstünden zwei Kulturen, die sich als unvereinbar begreifen müssten.

Ansätze für einen solchen Spaltungsprozess gibt es durchaus.

Sie spiegeln sich in vielen gesellschaftlichen Diskussionen wider und sind auch gerade zurzeit Grund und Ursache für erhebliche Konflikte.

Überall da, wo auf Analogem beharrlich bestanden wird, wo Digitalität nicht akzeptiert und durchschaut wird, wo deshalb obsessiv dem Digitalen widersprochen wird, führt das zu Aggressionen.

Die Trump Anhänger wie die Impfgegner gehen auch deshalb auf die Straße, weil für sie das nicht Begreifbare des Digitalen unheimlich und verdächtig ist. Die Wirkung und damit Macht der Algorithmen erzeugt Angst und Abwehr.

Dies besonders dann, wenn es den eigenen Körper betrifft und sozusagen persönlich wird.

Ist es möglich diesem Konflikt aus dem Weg zu gehen, indem man sich damit abfindet, dass es zwei Kulturen gibt, die analoge und die digitale?

Ist dieser kulturelle Gap einfach als gegeben hinzunehmen, auszuhalten oder auszusitzen?

Und darüber hinaus: Geht es darum, sich für eine der Kulturen zu entscheiden und die andere abzulehnen?

Noch ist es durchaus nicht so, dass das Alte dem Neuen Platz gemacht hat.

Im Gegenteil: es scheint sogar umgekehrt eher so, dass analoge Produktionen und Präsentationen die Kulturszene beherrschen und der größte Teil des Kunst,-Literatur- und Musikbetriebes bis heute analog agiert.

Das Kulturerbe, das aufgehoben und sorgfältig gepflegt wird als „Gedächtnis der Menschheit“, ist zwar selbstverständlich analog.

Auf einem anderen Blatt steht, dass inzwischen die Museen ihre Bestände digital katalogisieren, um sie den Nutzern leichter zugänglich zu machen.

Der Konzertbetrieb und das Orchester mit seinen Instrumenten wie Geige, Orgel, Flöte usw. bleibt selbstverständlich durchwegs analog.

Das gleiche gilt für die Oper, für die die Kommunen erhebliche Summen auszugeben gewohnt sind.

Ebenso ist die Szene der Malerei und der Bildhauer ist weitgehend analog orientiert. Steine zu meißeln oder mit dem Pinsel auf Leinwände zu malen ist eben eine haptische, analoge Art der Produktion.

Allerdings müssen Maler genauso wie Bildhauer akzeptieren, dass sie für den privaten Gebrauch arbeiten, sofern sie ihre Werke nicht in Ausstellungen präsentieren können.

Und ja, die besten Werke werden von den Reichen gerne als Anlage gekauft und verschwinden sehr häufig in den Safes der Banken.

Und selbstverständlich arbeiten die Theater durchwegs analog, denn für das Theater ist der konkrete Event, ist die unmittelbare Reaktion des Publikums essentiell.

Allerdings werden inzwischen von einigen Regisseuren Videoinstallationen in die Bühnenbilder integriert und ebenso wird elektronische Musik eingespielt.

Auch beim Literaturbetrieb mit den auf Papier gedruckten Texten ist zu konstatieren, dass er bis jetzt weitgehend analog organisiert ist.

Nur zögernd nehmen die Verlage die digitale Umwälzung wahr.

Das heißt im Ganzen: in der aktuellen Kulturszene sind bis heute besonders in Deutschland meist analoge Strukturen vorherrschend, das kann nicht geleugnet werden kann.

Dabei ist auch eines klar, dieser analoge Kulturbetrieb wird vor allem von den älteren, meist bürgerlichen Nutzern bedient, die stehen den digitalen Neuerungen sowieso eher skeptisch gegenüberstehen.

Dabei wird eine digitale orientierte Kultur gerne als Jugendkultur eingeordnet und disqualifiziert unter dem Motto: „Das wird sich schon mit den Jahren abschleifen, wenn die Jungen alt genug sind und reifer werden.“

Doch vom Standpunkt eines progressiven, an Digitalität geschulten Denkens ist dieser analog orientierte Kulturbetrieb mit seinen Strukturen regressiv und in jedem Fall nicht Avantgarde.

Dass die digitalen Entwicklungen im Vormarsch und zunehmend bestimmend werden, kann nicht geleugnet werden.

Die Streaming Dienste Spotify, Apple Music, Amazon Music beherrschen den Zugriff und Verkauf von Musik und die Videoportale YouTube und Tiktoc die Welt der Bildgestaltung genauso wie die eBooks die Verlagskultur der digitalen Plattformen.

Dabei ist zu anzumerken, dass die Protagonisten der digitalen Kultur keineswegs die analoge Kultur ignorieren, dass sie im Allgemeinen weniger den Dissens zur analogen Kultur suchen, sondern im Gegenteil sich an diese anlehnen und sie produktiv verarbeiten.

Erkannt wird, dass es darauf ankommt, die Qualitäten des Analogen zu bewahren und sie zugleich dem digitalen Prozess zuzuführen und dass es Sinn macht, diesen digital mit analogen Qualitäten zu steuern.

Das gilt auch für Bilder und Filme, die inzwischen mit den entsprechenden Apps manuell so bearbeitet werden können, dass sich elektronische und analoge Bildgebung miteinander vermischen.

Ebenso wird immer mehr wird deutlich, dass Musik, die sich auf ihre elektronische Produzierbarkeit allein verlässt, sich in Gefahr begibt zu verarmen.

Nicht von ungefähr blenden die heute führenden Komponisten wie zum Beispiel Ricardo Villalobos in ihre elektronischen Takes analoge Elemente ein, integrieren sie oder arbeiten sie elektronisch um.

Auch werden die gedruckte Erzählung und der traditionelle Roman in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung abgelöst von der gestreamten Serie.

Viele Serien, und da sind besonders die koreanischen zu nennen, die über Netflix gestreamt werden können, haben die kreativen Möglichkeiten der Mischung von Analogem und Digitalen für sich entdeckt.

Filmsequenzen werden hier mit der Technik digitaler Programme durch eingeblendete Texte und Diskursen ergänzt und so die Möglichkeiten inhaltlicher Vertiefung und Erweiterung wahrgenommen.

Eine Serie wie „Vicenzo“ von Kim He-won steht in seiner gesellschaftlichen und inhaltlichen Tragweite einem Roman wie Dostojewskis Schuld und Sühne in nichts nach, transportiert aber diese Problematik inhaltlich und formal in eine von Digitalität bestimmte Moderne.

Damit übernimmt die gestreamte Serie inzwischen nicht nur die poetische Position der analogen Romane, sondern auch ihre gesellschaftliche Funktion und Bedeutung.

Hinzukommt, dass die Serie anders als der „Arthouse“ Film sich durchschnittlich 15mal länger ausbreiten kann und damit in der Lage ist Handlungsabfolgen auszubauen.

Er kann umfangreichen und tiefgreifenden gesellschaftlichen Problemen nachgehen und muss nicht durch vielfache Schnitte Komplexes nur andeuten.

Rückblicke und Verdopplungen sind möglich und bieten Gelegenheit, ausgiebig verschiedene Perspektiven zu beleuchten.

Damit kann gerade die gestreamte Filmserie beweisen, dass ein ästhetisch Ganzes entstehen kann, in dem Analoges und Digitales zusammenfindet, dass es möglich ist den Gap zwischen analog und digital kreativ zu nutzen.

Neben der Serie dann ist in einem anderen Genre, dem der Dichtung oder poetry, das neue Format Crossmedia Book dazu in der Lage ein solches komplexes Ganzes herzustellen.

Zwar werden die Texte, kombiniert mit Bildern und Musik, nicht wie in der Serie ausgebreitet.

 Hier geht es um Dichtung im Sinne von Verdichtung, um Reduktion der Texte zu „Zauberworten“.

Durch das Ineinandergreifen der Textinterpretation des Sprechers, der hinzugefügten Musik und der Bilder der Videos aber wird eine Intensivierung des ästhetischen Ausdrucks erreicht.

Die Basis der Texte ist selbstverständlich analog, die Präsentation allerdings dann digital.

Die Musik kann den digital konstruierten Bildern folgend elektronisch basiert sein, dies in Kombination mit analogen Elementen.

Eine solche Präsentation von Texten kann den ehemaligen Reichtum des Ausdrucks, die Komplexität zurückgewinnen, die Poesie einmal vor dem Buchdruck hatte.

Ähnlich wie in der alten chinesischen Kultur wird so ein poetisches, musikalisches und bildhaftes Ganzes in einem digitalen Prozess verarbeitet, der ganz neu und zugleich auch ganz alt ist, der die Qualitäten des Alten im 21. Jahrhundert formuliert, indem er sie bewahrt und zugleich neugestaltet.

Dass es bei dieser Überführung zu Verzerrungen kommt, dass das Alte dem Neuen nicht gleich ist, versteht sich von selbst.

Aber das Neue muss dem Alten nicht nachstehen, im Gegenteil, es kann nur so in der Gegenwart wirksam werden.

Zusammengefasst bedeutet das:

Es kommt darauf an, die Qualitäten des Analogen zu bewahren und sie zugleich dem digitalen Prozess zuzuführen, diesen digital mit analogen Qualitäten zu steuern.

Dabei kann die Bodenhaftigkeit in der analog sinnlichen Erfahrung gewahrt bleiben, sie muss nicht einer Nutzung der digitalen Möglichkeiten widersprechen.

Der Gegensatz zwischen analoger und digitaler Wahrnehmung lässt sich produktiv nutzen, indem das eine das andere ergänzt.

Damit wird vermieden, dass die Dynamik des Gegensatzes von analog und digital in einer Sackgasse verkümmert.

Es entsteht eine neue kulturelle Vielfalt und Wirksamkeit.