Deutsches Epitaph

Wie wird die nachgeborene Generation der Deutschen mit den Problemen fertig, die ihnen der 2. Weltkrieg und der Holocaust hinterlassen hat?
Vergilbte Bilder werden überliefert, Erinnerungen bleiben, doch ein Neuanfang wird versucht.
Der Text beschreibt die posttraumatische Verarbeitung der jüngsten deutschen Geschichte. Dabei geht es kaum um das konkrete historische Geschehen, sondern sehr viel mehr um die Spuren, die sich im Bewusstsein der später Geborenen eingelagert haben.
Das Digital Art Poetry Projekt „Deutsches Epitaph““präsentiert sich mit einem Einleitungsvideo und 2o Musikvideos, die Texte aus dem 7. Kapitel des Romans „Stadt des Hieronymos“ von Adelheid Seltmann enthalten. Sie wurden über der elektronischen Musik der CD „Heroin“, die Stephan Mathieu für das Kunstprojekt bearbeitet und arrangiert hat, in Deutsch von Peter Heusch eingesprochen. Das crossmediale eBook lässt eine komplexe Rezeption des Textes in der Videoversion auf den drei Ebenen Text, Bild und Musik zu. Daneben kann der Text auch für sich gelesen werden. Ein Nachwort erläutert die literarische Präsentationsform des Projektes.

Zum Konzept Epitaph

Das Projekt Literaturvideo „Epitaph“ stellt sich als Gesamtkunstwerk so dar, dass sowohl die Musik wie der Text und die Videos selbstständig konzipiert wurden und deshalb auch für sich alleine ihre künstlerische Existenz haben und in dem Projekt vereinigt behalten.

So wurde die Musik in der CD Heroin (produziert 2001 und 2002 von Josef Suchy, Nobukazu Takemura, Joshua Kit Clyton, Frans de Waard, Christina Fennesz, Oren Ambarchi, Carmen Baier und Akira Rabelais,) bei orthlong music und freibank veröffentlicht und dann 2005 für das Projekt von Stephan Mathieu bearbeitet. Dem ersten Titel „ swastika“ liegt der Titel 10 aus „Ekkehard Ehlers plays“ ( staubgold 30) von Ekkehard Ehlers zugrunde.

Der Text ist das vollständige siebente Kapitel des im ShakerMedia Verlag Aachen 2008 erschienenen Romans „Stadt des Hieronymos“ von Adelheid Seltmann.
Er wurde von Gerald von Brandenstein ins Englische übersetzt, so dass die DVD EPITAPH zweisprachig mit 21 Videos und einem Textbuch in deutscher englischer Sprache gleichfalls im ShakerMedia Verlag veröffentlicht werden konnte.

Die Videos von Jörg Franzmann wurden zu großen Teilen unabhängig vom Projekt erarbeitet und können gleichfalls auch ohne Musik und Text aufgeführt werden. Sie wurden gleichfalls bisher nicht veröffentlicht.
Indem die Musik, der Text und die Bilder trotz ihrer potentiellen Selbstständigkeit zu einer Projekt zusammen gefügt werden, entstehen zwischen ihnen, also zwischen der Ebene der Musik, der des Textes und der des Bildes, Wechselwirkungen und Bezüge unterschiedlicher Art, die ganz neue, vorher in den einzelnen Werken nicht deutliche, Wirkungen erzielen.
Dabei geht es nicht, um Verdoppelungen. Der Text tendiert nicht dazu, von dem Bild untermalt zu werden, die Musik fungiert nicht als Begleitmusik. Die einzelnen Videos wurden deshalb auch nicht so bearbeitet, dass eine Homogenität des Eindrucks angestrebt wurde, im Gegenteil: das Disparate, die Divergenz wird als Ausdruckmittel genutzt.
Die Musik bringt zum Text etwas hinzu, der Text etwas zum Bild, das Bild etwas zur Musik: innerhalb des Dreiecks der Ebenen entwickelt sich das eigentliche künstlerische Geschehen neu und anders, als es das auf einer der Ebenen hatte tun können. Es entstehen unerwartete Verdichtungen, Verfremdungen und Perspektiven.
Dabei ist es wichtig, dass diese Ebenen, gerade weil sie relativ selbstständig sind, stilistisch und vom ästhetischen Konzept her Kongruenzen aufweisen.
Die CD Heroin von Stephan Mathieu (und Ekkehard Ehlers) ist durchwegs tonal angelegt, die Tonalität wird in jedem Track durchgehalten. Manchmal wird sie mit einfachen Kadenzen fixiert, in der Regel aber beschränkt sich das harmonische Material auf monochordische Klänge, die innerhalb des Klanges selbst elektronisch ausdifferenziert werden und damit ständig in Bewegung sind, obwohl sie, insgesamt als Klangband angelegt, statisch bleiben. Die Bewegung findet sozusagen im Nanobereich statt. Das Besondere dieser Musik ist, dass sie Track für Track Klangräume entstehen lässt, Klangwelten erschafft. In „Heroin“ wird die Technik des Umgangs mit Clustern, die Ligeti seit 1960 entwickelt hatte, weitergeführt. Wie für ihn gilt auch hier: die Cluster sind nicht „starre Blöcke, sondern sein sehr fein gesponnenes, changierendes Gewebe. Feinste Veränderungen der Dichte, Ineineinanderfließen von mehr oder weniger gegensätzlichen Klangflächen und ständiges Sich – Ablösen von reich nuancierten Farbklängen“ (Michael Gielen) lassen zwischen und innerhalb der Klänge Raum, eröffnen Räume, die Gefäß sein können für Bild und Text – und die damit von ihrer Struktur her das Literaturvideos vorzubereiten und zu installieren in der Lage sind.
Niemals ist diese Musik bloße Begleitung, sie illustriert nicht, sie biedert sich weder dem Text noch dem Bild an, aber sie beherbergt die anderen Ebenen, als wäre sie deren Gefäß. Dies übrigens auf eine ungewöhnlich freie und leichte, unakademische Art: hier schlägt sich als Inhalt nieder, was der neue Produktionsprozess möglich macht: man braucht keine komplizierten Partituren, man hat hoch qualifizierte elektronische Programme, die das realisieren können, was früher große Orchester in mühevoller Arbeit zu vollziehen hatten, man ist nicht an unbewegliche Apparate und deren Bedingungen und Autoritäten gebunden.
Ebenso wie die Musik von Stephan Mathieu sind die Videobilder von Jörg Franzmann vom Konzept her statisch angelegt, so dass man von einer grundsätzlichen Übereinstimmung zwischen der Musik und der Bildebene sprechen kann, einer Struktur, die auch der Anlage der Textteile entspricht: in dieser Hinsicht ziehen also alle drei Ebenen an einem Strang. Statisch meint: es gibt keine Handlung, keine Bewegung von A nach B, keine Entwicklung innerhalb der einzelnen Takes auf irgendein Ziel hin: dieses Ziel ist als innere Handlung allein dem Film als Ganzes zu entnehmen und dazu tragen die einzelnen Takes entsprechend bei. Nichtlinearität, die Vilem Flusser als konstitutiv für eine progressive ästhetische Gestaltung erkennt und fordert, wird hier auf allen Ebenen verifiziert. Weiterhin stimmen alle drei Ebenen darin überein, dass sich bei allgemeiner Statik der Takes, erhebliche Bewegungen innerhalb dieses statischen Rahmens vollziehen. Das heißt für die Bildebene im Besonderen: die Bilder sind Filmausschnitte, kurze Momente, die gefilmt wurden und die dann im Video in neuer, konzentrierter Gestalt präzisiert werden. Es gibt keine Personen mehr, die Szene steht für sich, die Kamera ist das einzige Auge, das hinsieht, immer genauer hinsieht und mit der filmenden Person verschmilzt. Das Bild selbst ist oder repräsentiert den ganzen Film, ist eine Art Filmkonzentrat, übrigens in diesem Fall ohne typische Videoeinschnitte und technische Manipulationen. Von Bildern wie „cancer“, „crossed out“ oder „images“ lässt sich das nicht sagen: hier scheint die final-cut Technik auf den ersten Blick zu dominieren. In den kleinen Feldern, die sich zu ornamentalen Teppichmustern zusammenstellen, laufen Filmsequenzen ab, pornographische Darstellungen, Bewegungen von Würmern und Schlangenteilen, Froschlarven, deren Bedeutung sich erst sich erst im Zusammenhang erschließen, wenn die gesehenen Teilchen sich sozusagen in das Gehirn des Sehenden begeben haben. Wie Teppichmuster organisieren sich die Raster des Videos in kleinen Quadraten: die allerdings sind mit Filmen gefüllt, die in verschiedenen Stufen von Verkleinerung eincomputiert wurden, Filme, für die es einen linearen Zusammenhang vom Materialstand her gegeben hatte.
Aber um diesen Zusammenhang kann es im Zeitalter der digitalen Revolution nicht mehr gehen. In einer Zeit, in der – wie Flusser überzeugend darlegt – „die Welt „nicht mehr eindimensional, linear, prozessual, historisch, sondern zweidimensional, als Fläche. als Kontext, als Szene“ wahrgenommen wird. (Flusser:“ins Universum der technischen Bilder“, s. 9) gehören lineare Texte und linear konstruierte Filme der Vergangenheit an.
Ganz ähnlich wie Stephan Mathieu mit den Klangbändern und Clustern arbeitet Franzmann im „Nanobereich“, d.h. er rastert er die Bilder, Froschlaven, Schlangen, Mädchenköpfe usw. ein und stellt sie in einer freien, rein gefühlsmäßigen Art nach Farbzusammengehörigkeit, Gruppen, unterschiedlichen Größen usw. zusammen. Damit entsteht innerhalb des Systems Unsystematik. Nicht die Systematisierungbehält die Oberhand, sondern das Unsystematische, das im Raster eingefangen wird. Durch die Rasterlinien hindurch bleibt die Empfindung, die das ursprüngliche Material enthielt, deutlich: der Ekel vor den Schlangen, den Froschlarven, die Trauer um die verlorene Liebe, die Faszination durch die Naivität der tanzenden Mädchen. Damit aber kontakariert Jörg Franzmann das apparatische Verfahren, nutzt es auf der einen Seite aus – nimmt die Möglichkeiten des Programms wahr, um es zu zugleich zu unterlaufen, auszutricksen. Flusser nennt solche Videos „stille Bilder“ und kennzeichnet sie so:

„Solch ein Bild weigert sich, bündelförmig verteilt zu werden, weil es sich strukturell gegen den Apparat stemmt.“ (Flusser, Medienkultur S.81 )

Ein Bestätigung für unserer Arbeit fanden wir vor allem auch bei den Ausführungen Flussers: seine Analyse der kommunikativen und künstlerisch – ästhetischen Situation im Zeitalter der digitalen Revolution, in der Texte, gelesene und zu lesende Texte, eine ganz andere Funktion und Wahrnehmung erfahren als in dem alten „Gutenbergschen Zeitalter“ und die Aufforderung, das Neue zu wagen, aber so, dass nicht die Maschine den Inhalt, den Ausdruck, die Bedeutung von zwischenmenschlich Kommuniziertem prägt, sondern der Mensch die Maschine für sich zu nutzen versteht, ohne sich ihr unterzuordnen – schien mir und uns überzeugend.

Schon 1991 hatte Florian Rötzer in „Digitaler Schein“ argumentiert (S. 359):

„Ich vertrete noch immer den Gedanken, dass man Ganzheit als Gesamtkunstwerk
interpretieren könnte. Die Zusammenführung der Gattungen würde auch heute
noch etwas sehr anderes zustande bringen als das, was zu Wagners Zeiten als
Gesamtkunstwerk galt. Die Multimediaoper quer durch alle Künste wäre noch immer eine vorstellbare Aufgabe. Allerdings verstehe ich Ganze hier nicht in dem Sinne, dass ich allem etwas von oben
überstülpe und behaupte, wie das Walter Gropius gemacht hat, dass die Kathedrale
die Zusammenführung aller Künste sei. Diese romantische Idee würde ich hier ablehnen.
Wenn ich aber den Versuch für notwendig halte, Expertenkulturen nicht mehr für sich
bestehen zu lassen, dann kann ich das nur rechtfertigen insofern eine
Zusammenführung dieser Expertenkulturen versucht wird.“

In jedem Fall kann ein Projekt, wie wir es hier präsentieren, das bieten:
die Stimulation der Sinne, und damit einen sinnlichen, direkten Zugang, ein nicht abstraktes Verständnis auch von Geschichte und ihren Problemen mit den Mitteln der neuen Medien des 21.

Die crossmedia Version des 7. Kapitels der „Stadt des Hieronymos“ wurde mit 21 Videos von Joerg Franzmann, der Musik der CD „heroin“, bearbeitet von Stephan Matthieu, in deutsch eingesprochen von Peter Heusch, in englisch übersetzt von Gerald von Brandenstein und eingesprochen von Paul F. Cowlan 2004 entwickelt und dann 2012 als Apple Book veröffentlicht. Neuere3 Veröffentlichungen 2019 bei Amazon kindl.